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Kannibalen überall

Aktualisiert: 23. Juli 2021

Erneuerbare Energien kannibalisieren sich gegenseitig. Kannibalisieren? Ist das gut oder schlecht? Und tut das weh?


Die Tiefen des Strommarkts


Zur Klärung dieser Fragen dürfen wir etwas abtauchen in die Tiefen des Strommarkts. Yay!


Jede Stromerzeugungseinheit hat individuelle Grenzkosten: Ein Kohlekraftwerk muss Kohle kaufen, um Strom erzeugen zu können und muss für den Betrieb mindestens die Brennstoffkosten decken. Eine PV-Anlage (PVA) auf der anderen Seite wandelt kostenlose Sonnenenergie in Strom um. Die Grenzkosten sind quasi Null. Am Strommarkt wird nun zu jeder Viertelstunde Angebot und Nachfrage ausgehandelt. Hieraus ergibt sich ein einheitlicher Preis, der für alle Stromerzeuger gilt, die zu dieser Viertelstunde Strom ins Netz einspeisen.

Dieser Strompreis schwankt meist zwischen ca. –100 €/MWh und +100 €/MWh; je nach Angebot und Nachfrage.


Am freien Markt, wird eine PVA nun immer dann abgerufen, wenn die Strompreise größer Null sind. Ein Kohlekraftwerk, wenn die Strompreise mindestens die Brennstoffkosten decken. Über die Lebenszeit einer Stromerzeugungseinheit müssen genügend Erzeugungsstunden bei ausreichend hohen Preisen zusammenkommen, damit sich diese Anlage amortisieren kann.


Exkurs Profilwertigkeit


Der Wertvergleich zwischen zwei Stromerzeugungseinheiten ist über den Profilwert möglich. Hierfür wird die Erzeugungskurve über ein Jahr genommen und multipliziert mit dem jeweiligen Strompreis zu jeder Viertelstunde und daraus ein Durchschnitt gebildet.


Ein Kraftwerk, welches 365 Tage im Jahr eine konstante Erzeugung leistet (Baseload) hätte 2020 beispielsweise einen Profilwert von 30 €/MWh gehabt. Es hat den Strom in 2020 also durchschnittlich für diesen Preis verkauft. Eine PVA, die nachts nicht erzeugt und insbesondere zur Mittagszeit Strom erzeugt, hätte im Vergleich einen Profilwert von ca. 26 €/MWh gehabt. Offensichtlich erzeugt die PVA zu Zeitfenstern mit hohen Preisen keinen Strom und erzeugt insbesondere dann, wenn die Preise eher niedrig sind.


Des Pudels Kern

Es ist recht einfach zu verstehen, welches Kraftwerk bei niedrigen Strompreisen erzeugen darf: Die PVA gewinnt gegenüber dem Kohlekraftwerk. Das Kohlekraftwerk bleibt aus. Was ist aber, wenn ich mich zwischen zwei PVA entscheiden muss? Hier nähern wir uns des Pudels Kern. Tatsächlich ist der Grenzkostenpreis einer PVA gar nicht Null. Es kommen weitere Aspekte ins Spiel wie Versicherungs- und Wartungskosten. Darüber hinaus kommen Investitionskosten hinzu. Neuere Anlagen schlagen hierbei ältere Anlagen, da die neueren Anlagen kostengünstiger gebaut werden können, als Anlagen in der Vergangenheit. Eine neuere PVA würde also früher gezogen werden, als eine ältere PVA.


Durch das EEG herrscht allerdings gar kein echter Wettbewerb am Strommarkt. Anlagen in der Einspeisevergütung bekommen ihre gesetzlich garantierte Vergütung ganz gleich, wie hoch oder niedrig der Strompreis gerade ist. Dadurch werden sie nur selten aus Preisgründen abgeregelt.


Wo bleiben nun die Kannibalen?


Jede neu gebaute EE-Anlage steigert das Angebot an Strom im Netz ein kleines bisschen. Solange es nur wenige EE-Anlagen gibt, hat das kaum einen Einfluss auf den Strompreis. Sobald es aber ausreichend viele EE-Anlagen gibt, drücken sie den Strompreis immer weiter nach unten. Insbesondere zu Zeiten, in denen besonders viele EE-Anlagen gleichzeitig produzieren. Jede neu gebaute EE Anlage steigert diesen Effekt nochmal.

Wir haben mittlerweile so viele EE Erzeugung am Netz, dass regelmäßig die Strompreise unter 0 €/MWh fallen. Dies geschieht beispielsweise zur Mittagszeit an Wochenenden, wenn die Nachfrage niedrig ist, aber das Angebot durch günstige Wetterbedingungen gut ist und ein großer Teil der PVA in Deutschland viel Strom ins Netz einspeisen. Die Zahl dieser negativen Stunden steigt hierbei seit Jahren immer weiter an. Jede neu gebaute PVA knabbert ein kleines bisschen zusätzlich am Strompreis zur Mittagszeit und senkt somit die Profilwertigkeit der bereits vorhandenen PVA. Sie kannibalisiert ihre Technologiegenossen.


Es gibt sogar mehrdimensionale Kannibalen


Während Stürmen werden ebenfalls regelmäßig stark negative Strompreise erreicht. Dort ist sind dann die Windenergieanlagen (WEA) preisbestimmend, die deutschlandweit flächendeckend viel Strom ins Netz einspeisen. Bei den WEAs haben wir einen Kannibalismus durch technischen Fortschritt. Neuere Anlagen werden immer höher und immer größer. Damit produzieren sie sehr viel früher, als niedrigere und kleinere Anlagen im Bestand.


Sobald ein laues Lüftchen in 175 m Nabenhöhe weht, erzeugen diese großen Anlagen bereits Strom. Eine Altanlage in direkter Nachbarschaft merkt zu diesem Zeitpunkt bei ihren 75 m Nabenhöhe noch gar nicht, dass überhaupt Wind weht. Sobald der Wind dann so stark auffrischt, dass auch die Kleinanlage beginnt sich zu drehen, sorgt ein großer Pool an Neuanlagen schon für niedrige Preise am Strommarkt. Dies drückt natürlich die Profilwertigkeit der Altanlagen erheblich.


Projektentwickler suchen deshalb ganz bewusst nach Flächen, die außerhalb etablierter Winderzeugungsstandorte liegen, um diesen Effekten zu entgehen.


Ist das gut oder schlecht? Und tut das weh?

Tja. Die beschriebenen Preiseffekte am Strommarkt sind erstmal einfach nur Realität. Stark positive Preise ermöglicht steuerbaren Kraftwerken den wirtschaftlichen Betrieb in Zeitfenstern, wo sie für Wind- und Solaranlagen einspringen müssen. Dies ermöglicht Raum für die flexible Fahrweise von Biogasanlagen, Pumpspeicherkraftwerken oder Batteriespeichern.

Stark negative Preise sind ein starkes Signal, um den Verbrauch auf diese Zeitpunkte auszurichten. Dies passiert bereits und ist ein wesentlicher Ansatz für die Nutzung von Sektorkopplungstechnologien. Zudem werden teure und unflexible fossile Kraftwerke verdrängt und bleiben immer öfters ausgeschaltet. Für die EE-Anlagen in der Einspeisevergütung sind die negativen Stunden kein wirkliches Problem, da sie trotzdem eine Vergütung erhalten. Lediglich bei langfristigen Negativpreisphasen entfällt die Vergütung für EEG-Anlagen. Das aktuelle EEG berücksichtigt diese Stunden und hängt sie am Ende der 20-jährigen Vergütungsdauer an. Die Anlagen leiden dadurch keinen finanziellen Schaden.


Schwierig wird es allerdings für EE-Anlagen die nach 20 Jahren aus der EEG-Vergütung fallen oder außerhalb der EEG-Vergütung gebaut werden sollen. Die Zeiten in denen diese ausreichend hohe Strompreise an der Strombörse vorfinden reduzieren sich immer weiter. Hierdurch kann die Wirtschaftlichkeit dieser Projekte gefährdet werden. Im Worst-Case müssen technisch einwandfreie EE-Anlagen rückgebaut werden. Das tut dann weh.


Hier müssen über kurz oder lang neue Geschäftsmodelle geschaffen werden oder vom Regulator nachgebessert werden, damit wertvolle EE-Anlagen nicht abgebaut werden oder zumindest sichergestellt werden, dass ausreichend neue und kostengünstigere EE-Anlagen gebaut werden.

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